Die Wälder waren eine Art Schule, in der es nicht ums Nachdenken ging, sondern nur ums Betrachten und Dahinwandern.

Manchmal, wenn ich mit meiner Mutter vor der sanierten Hütte auf unserem verbliebenen Land sitze, versuche ich mich zu erinnern, wie die Wälder für mich ausgesehen hatten, als ich jünger war. Ich mache nicht den Fehler, wehmütig zu werden. Ich habe sie nie als magisch empfunden: Ich war nie so jung oder so besitzergreifend, sie so zu sehen. Die Wälder entfalteten sich einfach Jahr für Jahr, erblühten und vertrockneten, und in ihrem steten Wandel schwang halb enthüllte, halb verschwiegene Bedeutung mit – Geheimnisse, ja, aber Geheimnisse, die durch die Veränderung zur Routine wurde, dadurch, dass der Wald seine Spuren wieder und wieder verwischte. Mit acht oder neun ging ich immer zum Ufer hinunter und füllte Kaffeedosen mit zehncentgroßen Kröten. Ich nannte sie Zoos.

Meine Mutter wollte, dass ich vor dem Schlafengehen betete, und so sprach ich jeden Abend dasselbe Gebet: Lieber Gott, bitte mach, dass Mama, Papa, Tameka, Abe, Doctor, Jasper, Quiet und alle Tiere in den Zoos sich nicht zu sehr langweilen und nicht zu einsam sind. „Nicht zu“ war mein Mantra. Ich wollte die Kröten gerne behalten. Ich mochte ihre vielen Gesichter – besonders ihre äußerst plastischen Augen -, aber ich machte mir Gedanken darüber, was ich ihnen vorenthielt. Hatten sich meine Schuldgefühle ein paar Nächte lang aufgebaut, leerte ich die Kaffeedosen in einen gesprenkelten Erlenstrauch, und wenn die Kröten auf ihren winzigen Beinchen davonrannten, spürte ich die Macht der Wälder sehr deutlich. Ich fühlte, wie sie mich züchtigten und zurechtwiesen, wie sie jedes Mal zu sagen schienen: Siehst du?

wolf.jpg

So sind die Wälder meiner Kindheit in meiner Erinnerung: Alle Bäume, selbst die vom Forstamt in präzisen Reihen gepflanzten Kiefern, schienen sich voneinander zu unterscheiden. Aus einem tropfte in der Hitze Harz in Bläschen heraus, von einem anderen war ein Ast abgerissen und hatte ein gnomenhaftes Gesicht im Holz zurückgelassen. Die Wälder waren eine Art Schule, in der es nicht ums Nachdenken ging, sondern nur ums Betrachten und Dahinwandern. Ich ließ meinen Blick gerne über Details schweifen, über Zweige und Kiefernnadeln, überfahrene Tiere, deren Eingeweide wie verstreutes Gepäck auf dem Asphalt lagen. Ich wusste einiges über Wälder, aber es gab auch jedes Mal Dinge, bei denen ich davon überzeugt war, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. Zum Beispiel eine Krähe, die sich auf dem Randstreifen mit einer Schnappschildkröte um eine Fast-Food-Tüte stritt. Oder eine Riesenameise, die aus dem Nichts auf meinem Handgelenk erschien und eine kleine grüne Raupe wie eine Trophäe meinen Arm hinaufzerrte.

Emily Fridlund: EINE GESCHICHTE DER WÖLFE
Verlag: Berlin Verlag
Übersetzt von Stephan Johann Kleiner
ISBN: 978-3827013675