Ein Lied für die Geister

Landreaux fuhr nach Hoopdance, außerhalb des Reservats, und hielt vor dem Fenster des Drive-in-Getränkeladens. Die Flasche legte er in ihrer Papiertüte auf den Beifahrersitz. Kurvte über einsame Nebenstraßen, bis keine Lichter mehr zu sehen waren, und hielt am Straßenrand. Eine Stunde saß er reglos da, dann schnappte er sich die Flasche und lief auf das eiskalte Feld hinaus. Der Wind rauschte ihm um die Ohren. Er legte sich hin. Er versuchte, ein Bild von Dusty in den Himmel zu schicken. Mühte sich verzweifelt, die Zeit zurückzudrehen und zu sterben, bevor er in den Wald aufbrechen konnte.
Aber jedes Mal, wenn er die Augen schloss, lag der Junge immer noch verkrümmt im Laub. Der Boden unter Landreaux war trocken, Sterne flammten jetzt dort oben auf. Flugzeuge und Satelliten blinkten. Der Mond stieg weiß glühend über den Horizont, und irgendwann kamen Wolken und verdeckten alles.

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Nach ein paar Stunden stand Landreaux auf und fuhr nach Hause. Aus dem Schlafzimmerfenster drang gedämpftes Licht. Emmaline war noch wach und starrte an die Zimmerdecke. Als sie Reifen auf dem Kies der Einfahrt hörte, schloss sie die Augen, schlief ein und wachte vor den Kindern wieder auf. Sie ging raus und fand ihn in der Schwitzhütte, unter Planen zusammengerollt. Neben ihm die noch immer ungeöffnete Flasche. Er blinzelte ins Licht.
O Mann, sagte sie. Eine Magnumflasche Old Crow. Du hattest dir ja was vorgenommen. Sie legte die Flasche in eine Ecke, ging ins Haus und brachte die Kinder zum Bus. Dann zog sie sich selbst und LaRose warm an und nahm für ihren Mann einen Schlafsack mit.
Während er sich aufwärmte, machten sie und LaRose Feuer, warfen aus einem besonderen Beutel Tabak in die Flammen, legten Großvatersteine hinein, schürten es heißer und heißer.
Sie holten den Kupferkessel und die Schöpfkelle, die Decken, die Medizin und was sie sonst noch brauchten. LaRose half mit – er kannte sich mit allem aus. Er war Landreaux’ kleiner Mann, sein Lieblingskind, auch wenn Landreaux es sich nicht anmerken ließ. Als LaRose so ernst auf seinen starken, dünnen O-Beinen am Feuer hockte und sorgsam sein eigenes kleines Medizinbündel in eine Reihe mit den Pfeifen legte, malte sich Verzweiflung auf Landreaux’ breitem Gesicht. Er sah zu Boden, sah weg, sah überall sonst hin, so sehr überwältigte ihn der Gedanke, der ihm gekommen war. Emmaline bemerkte es, nahm die Flasche und schüttete den Whiskey zwischen ihnen beiden aus. Während er im Boden versickerte, sang sie das alte Lied vom Bärenmarder Kwiingwa’aage, dem Schutzgeist der hoffnungslos Bezechten. Als die Flasche leer war, sah sie auf. Stellte sich Landreaux’ seltsam leerem Blick. Genau in dem Moment kam ihr auch ein Gedanke. Sie begriff, was in ihm vorging. Sie hielt inne, blickte blass ins Feuer, dann zu Boden.

Sie flüsterte: Nein. Sie wollte gehen, konnte aber nicht weg, und als sie schließlich weitermachte, liefen ihr nasse Schlieren über das Gesicht. Sie schürten das Feuer, legten acht und vier und acht Großvatersteine in die Glut. Es dauerte länger als gewöhnlich, die Steine heiß genug zu halten und dazu noch die Klappen der Hütte zu öffnen und zu schließen und die Steine hineinzutragen.
Aber sie hatten nichts anderes zu tun. Sie konnten gar nichts anderes tun. Es sei denn, sie hätten sich betrunken, aber das hatten sie nicht vor. Das hatten sie erst mal hinter sich.
Emmaline kannte Lieder, mit denen sie die Medizin in die Hütte brachte, und Lieder, um die Manidoog und die Aadizookaanag, die Geister herbeizurufen. Landreaux kannte Lieder für die Tiere und die Winde aller Himmelsrichtungen. Als es in der Hütte heiß und dampfig wurde, rollte LaRose zur Seite, hob die Plane an und schnappte frische Luft. Er schlief auf dem Boden ein. Die Lieder wurden Teil seiner Träume. Seine Eltern besangen die Wesen, von denen sie Hilfe erhofften, und ihre Vorfahren – die uralten Vorfahren, deren Namen schon vergessen waren. Mit den jüngeren Vorfahren war es schwieriger, deren Namen sie noch kannten und mit Iban ergänzten, mit verstorben oder in der Geisterwelt. Ihretwegen klammerten sich Landreaux und Emmaline aneinander fest, als sie Medizin auf die glühenden Steine warfen, schrien auf und rangen nach Luft. Nein, sagte Emmaline. Sie knurrte und bleckte die Zähne. Nein, eher bringe ich dich um.

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Landreaux beruhigte sie, redete auf sie ein, betete mit ihr. Versuchte ihr Mut zu machen. Sie hatten zusammen den Sonnentanz getanzt und in Trance etwas gehört. Hatten etwas gesehen, als sie auf einer Klippe fasteten, und erzählten einander jetzt davon. Ihr Sohn war aus den Wolken herabgestiegen und hatte gefragt, warum er die Kleider eines anderen Jungen tragen müsse. Er war über dem Boden geschwebt. Hatte ihnen die Hände aufs Herz gelegt und geflüstert: Ihr werdet leben.
Jetzt wussten sie, was diese Bilder bedeuteten. Stück für Stück brach Emmaline zusammen. Ihr ging die Luft aus. Sie schmiegte sich an ihren Sohn. Sie hatten es vermieden, den Namen LaRose zu vergeben, bis ihr jüngstes Kind geboren wurde. Es war ein unschuldiger und doch machtvoller Name, den die Heiler in der Familie getragen hatten. Keins ihrer Kinder sollte so heißen, aber dann war es, als sei der Kleine als LaRose auf die Welt gekommen.
Seit über hundert Jahren gab es in jeder Generation der Familie eine LaRose. Emmalines Mutter und ihre Großmutter hießen so. Im Laufe der Zeit hatten sich Landreaux’ und Emmalines Stammbäume verflochten, so dass sie beide mit den LaRoses verwandt waren. Sie kannten beide die Geschichten, die Legenden.

aus: Louise Erdrich "Ein Lied für die Geister"